Skandale interessieren, erregen Aufmerksamkeit, befeuern Schadenfreude und lösen Empörung aus. Sie steigern Auflagen von Boulevardblättern und erhöhen Einschaltquoten von Talkshows.
Die Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und Hanne Detel beschreiben in ihrem Buch „Der entfesselte Skandal“ anhand von Fallstudien den Prozess der Skandalisierung in der digitalen Gesellschaft. Die geschilderten Beispiele reichen von bekannten Zeitereignissen wie der Lewinsky-Affäre und den Enthüllungen von Wikileaks, über die ikonischen Bilder aus Abu Ghraib bis hin zu den Rücktritten des Bundespräsidenten Köhler oder der Causa Guttenberg. Aber gerade die Fälle von Nicht-Prominenten, welche die Autoren zusammengetragen haben, sind am eindrucksvollsten.
So kann ein netzbasierter Skandal heute aussehen: Ein Mann hat einen unangebrachten Wutausbruch in einem Bus in Hongkong, als er von einem Mitfahrer aufgefordert wird leiser zu telefonieren. Ein weiterer Passagier filmt diesen Streit mit seiner Handykamera und stellt ihn auf YouTube ein. Als „Bus Uncle“ zieht er fortan seine Kreise und wurde bis heute weltweit millionenfach angeklickt.
Es wird daran deutlich, es gibt auch neue Opfer von Skandalen. Die früher nötige soziale Fallhöhe verliert an Bedeutung. Auch Nicht-Prominente, „Ohnmächtige und gänzlich Unbekannte“ (233) gelangen zu zweifelhafter Berühmtheit. Unbedacht gepostete Videos oder eine falsch adressierte E-Mail, aus einer „Möglichkeitsblindheit“ (234) heraus, können fatale Folgen haben. Das Buch illustriert, wie für viele die Wahrnehmung zwischen einer privaten Umgebung und der öffentlich, potenziell globalen Reichweite ihrer Äußerungen im Netz verschwimmt, zwischen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ (60-61) wie die Autoren in Anlehnung an Erving Goffman formulieren. Die Kontexte geraten ins Wanken, das „vermeintlich Flüchtige bleibt bestehen“ (236).
Es kommt zu einem grundsätzlichen Kontrollverlust, so die Kernthese des Buches. Daten sind schwer aus dem Netz zu entfernen, auch Falschmeldungen oder Halbwahrheiten entwickeln ein Nachleben. Skandale befinden sich heute in der Zeitform der ewigen Gegenwart, die kein Vergessen kennt.
Diese Entwicklungen zeigen auch: Journalisten haben in der digitalen Gesellschaft ihr Skandalisierungsmonopol verloren. Die Deutungshoheit der klassischen Massenmedien als Gatekeeper der medialen Information ist ins Wanken geraten. Die Massenmedien sind heute ein Teil im Beziehungsgeflecht der Netzöffentlichkeit, sie können einem im Netz begonnenen Skandal die nötige Durchschlagskraft geben.
In den Zeiten von Handykamera, Smartphone, Twitter und Sozialen Netzwerken kann potenziell jeder Skandale initiieren. Wie der „Fall Guttenberg“ und das GuttenPlag zeigen, entwickeln sich Skandale schneller und in einem neuen Zusammenspiel zwischen Netzakteuren wie der Schar der Rechercheure auf der Plagiatsplattform und den klassischen Massenmedien. Das bisher oftmals nur rezipierende Publikum ist zum Mitakteur, zum Fakten-Checker aber auch je nach Lage zum Skandalisierer mit eigener Agenda geworden.
Der im Buch dargelegte Vorlauf des Rücktritts des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler eröffnet einen exemplarischen Blick auf dieses Wechselspiel. Ein Interview Köhlers im Deutschlandradio, mit unglücklich formulierten Aussagen zu deutschen Militäreinsätzen und Handelswegen, stand am Anfang. Ein Blogger nahm sich des bis dato wenig beachteten, aber on-demand abrufbaren Interviews an, und begann über die Aussagen Köhlers zu bloggen, später wendete er sich an Onlineredaktionen, von denen einige das Thema aufgriffen. So nahm die „Affäre Köhler“ an Fahrt auf.
In der Debatte rund um Privatsphäre und Datenschutz im Netz enthalten sich die Autoren einer abschließenden Positionierung. Ihr Buch beschreibt vielmehr analytisch-sachlich, die durch das technische Umfeld des Web 2.0 und das immer verfügbare mobile Internet entstandene Entwicklung. Dabei ist das Buch durch seine essayistische Schreibweise sehr gut zugänglich und dürfte auch Leser jenseits des Wissenschaftsbetriebes interessieren.
Am Ende wird dem Leser der „kategorische Imperativ des digitalen Zeitalters“ mit auf den Weg gegeben: „Handele stets so, dass Dir die öffentliche Effekte Deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.“ (233)
Bernhard Pörksen/Hanne Detel
Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter
Herbert von Halem Verlag 2012
19,80 Euro