Yvonne Malak: Bequemlichkeit killt Einschaltquote

Die gute Nachricht der MA 2024/II: viele junge bzw. musikalisch progressivere Formate gewinnen Hörer dazu (dabei waren gerade diese doch längst totgesagt…). Es ist also möglich, sogar ganz junge Zielgruppen mit Radio in Deutschland zu erreichen (in anderen Ländern wie z.B. England sind Tagesreichweite und WHK unter jungen Hörern sogar noch deutlich besser – je etwa 10 Prozentpunkte über dem deutschen Durchschnittswert). Meine Theorie: die Kollegen der progressiveren und „jüngeren“ Formate wie Jam FM, Kiss FM, big fm sind engagiert und motiviert, haben Energie und Präsenz am Mikrofon, kennen und leben die Themen der Zielgruppe. Vor allem aber sprechen sie die Sprache der Hörer und erreichen diese in deren Lebenswelt. Mit anderen Worten: Sie stellen eine Verbindung zum Hörer her.

Warum gelingt diese Verbindung, die – nach einem fokussierten Musikformat – unsere Einschaltquotenversicherung ist, nicht noch mehr Sendern und Formaten? Auch hier habe ich eine Theorie: weil wir Macher zu bequem geworden sind.

Corona hat uns gezeigt was möglich ist und unser Leben vier Jahre später bequemer gemacht: Senden von zuhause, Team-Moderation von unterschiedlichen Orten, redaktionelle Zuarbeit aus dem Airbnb auf der griechischen Insel… Ich liebe viele der Learnings aus dieser Zeit. Sie machen auch mein Leben bequemer… Und gleichzeitig bin ich überzeugt: einige Pandemie-Überbleibsel sind zwar wahnsinnig bequem aber auch wahnsinnig schädlich für das Medium und die oben erwähnte Verbindung zum Hörer.

Bequemlichkeitsfalle Nummer 1: Video-Konferenzen und Home-Office.

“TV ist Teamwork nicht ‘Teams-Work‘”. Diesen Satz habe ich aus einem Besuch bei Welt TV mitgenommen. Dasselbe gilt fürs Radio.

Kann es sein, dass wir zu viel Teams-Work machen und weniger Teamwork als in der Vor-Corona-Zeit?

Die besten Ideen kommen doch immer dann auf, wenn wir gemeinsam vor Ort rumblödeln, Mittagessen gehen oder uns von unseren Erlebnissen zuhause erzählen.

Wie viele spektakuläre Ideen hattest du mit den Kollegen schon im Zoom-Meeting? Und wie viele beim gemeinsamen Rumspinnen im Großraumbüro? Es muss ja nicht gleich der Hamster in der Mikrowelle sein (Kiss FM in den 90ern) oder eine der anderen verrückten Aktionen Berliner Radiosender wie das Badezimmer-Zertrümmern bei RTL oder das Porsche-Verschrotten von Energy – diese Art von Aktionen motivierte damals übrigens sogar den SPIEGEL zu einem Artikel (natürlich große Empörung über den Niedergang des Abendlandes angesichts der Aktionen in der deutschen Privatradiolandschaft). Da müssen wir wieder hin: Dass unsere Aktionen so besonders sind, dass andere Mediengattungen darüber berichten. Ich bezweifle, dass uns das mit den Ideen aus den Videocalls gelingen wird…

Natürlich muss man im Jahr 2024 auch Home-Office (in Maßen!) zulassen und den Mitarbeitern eine gewisse Flexibilität zugestehen.

Im Alltag sieht das aber oft so aus, dass die Videokonferenz sooo bequem, die VP sooo schnell gemacht und das Home-Studio sooo praktisch ist, dass sehr oft auf solche Krücken zurückgegriffen wird und wir es so immer häufiger versäumen, eine Verbindung zum Hörer herzustellen.

Hier sind wir bei Bequemlichkeitsfalle Nummer 2: Voicetracking oder „Near To Live- Moderationen“ unter falschen Vorzeichen.

VT soll und kann viel Zeit sparen. Es ermöglicht technisch, dass ein Moderator für mehrere Sender parallel sendet oder dass eine Vier-Stunden-Show in zwei Stunden aufgezeichnet wird und der Kollege zwei Stunden für andere Tätigkeiten gewinnt. Wir befinden uns hier in der Zwickmühle zwischen Effizienz und Wirtschaftlichkeit einerseits und dem bestmöglichen Produkt andererseits. Beides muss möglich sein.

Deshalb frage dich: Geben meine Kollegen und ich uns genug Mühe, beim schnellen Voicetracken mit demselben Energielevel zu moderieren wie im Livebetrieb? Strengen wie uns ausreichend an, das Feeling der Musik im VT genauso widerzuspiegeln wie in einem Live-Break?

Ich bin sehr für Voicetracking und Produktionen aller Art – die Zukunft wird noch mehr davon nötig machen. Aber ich habe den Eindruck, dass wir hier mit falschen Voraussetzungen rangehen. Es geht auch um Effizienz – natürlich. Aber es muss immer auch um das bestmögliche Produkt gehen.

Natürlich gibt es Moderatoren, die den Umgang mit Voicetracking so beherrschen, dass man wirklich null Unterschied hört. Aber das ist – sorry – leider nicht die Regel… Es ist ja auch so schön bequem, den Break mit Versprecher einfach nochmal machen zu können. Diese Herangehensweise aber nimmt – Erfahrungswert – Körperspannung und damit Energie und Präsenz aus der Moderation. Und wie stelle ich eher eine Verbindung zum Hörer her: wenn ich mit einer starken Präsenz und auf einem hohen Energielevel moderiere oder wenn ich mal eben einen Break zum dritten Mal tracke, weil die ersten beiden Versionen einen Versprecher enthielten?

Bequemlichkeitsfalle 3 – Schnelle Vorproduktionen ohne Gefühl für das Leben zu der jeweiligen Sendezeit.

VPs an sich können Fluch und Segen zugleich sein. Eine VP in der Morgensendung kann mit Postproduktion wunderbar „aufgehübscht“ werden. Ein Segen! Eine VP in der Morgensendung kann aber auch kontraproduktiv sein – vor allem, wenn das Stopset zu unterschiedlichen Sendezeiten läuft. Ein Fluch. Beispiel: die VP von 6 Uhr 15 war ja wunderbar, also senden wir das Stopset um 8 Uhr 15 nochmal genauso. So stellt man garantiert keine Verbindung zum Hörer her. Die Welt ist um 6 Uhr 15 eine andere als um 8 Uhr 45.

Das Ganze lässt sich noch steigern: mit Vorproduktionen über mehrere Tage im Voraus – womöglich sogar von zuhause aus.

Wunderbar, dass die Technik so etwas möglich macht. Das hilft uns bei vielen Sendern, Personalprobleme zu lösen und z.B. Wochenenden und Feiertage abzudecken. Aber hier gilt dasselbe wie bei den VT-Shows oder „Near to live-Moderationen“: Effizienz und Schnelligkeit sind leider oft wichtiger als Perfektion und die Verbindung zum Hörer. Aber beides muss gleich wichtig sein.

Eine schnelle „Bunte Meldung“ über eine kuriose Entdeckung oder eine Geschichte über Taylor Swift und ihren Freund passen immer (nein!) und sind am Freitag schnell getextet und ratzfatz für den Sonntag aufgezeichnet…  und keines von beiden stellt eine Verbindung zum Hörer her.

Die Probleme „Energie, Präsenz, Körperspannung“ gelten natürlich hier noch mehr als bei einer VT-Show, die am selben Tag kurz vor Ausstrahlung aufgezeichnet wird.

Dennoch bleibt es dabei: VPs sind eine super Sache. Um den Hörer zu erreichen, verlangen sie aber extra aufmerksame Vorbereitung mit viel Gehirnschmalz (wie stelle ich für Sendezeit X heute schon eine Verbindung zum Hörer her) und Liebe zum Detail. Sich in die Musik und deren Stimmung hineinzufühlen und diese zu spiegeln, wäre schon mal ein erster Ansatz. Musik ist der Haupteinschaltgrund – diese zu leben, zu feiern und den Spaß daran zu spiegeln, hilft in jedem Fall eine Verbindung zum Hörer herzustellen. Wir spielen Taylor Swift, die Beatles oder Mozart schließlich nicht, weil WIR es unbedingt wollen, sondern weil unsere Hörer diese Künstler lieben. 

Bequemlichkeitsfalle Nummer 4: auf Benchmarks verlassen.

Ich bin ein großer Fan guter (Morgenshow-) Benchmarks. Sie schaffen Einschaltimpulse, strukturieren den Tag der Hörer, können Tagesaktualitäten aufgreifen, unterhalten, zum Signature-Segment für einen Sender werden und noch vieles mehr.

Sich aber nur noch auf (zugelieferte) Benchmarks zu verlassen, ist der Tod einer jeden Unterhaltungs-Show. Zu viele Benchmarks sorgen oft dafür, dass es überflüssig wird, jeden Tag den allerbesten Content für die Zielgruppe an diesem Tag zu dieser Zeit zu suchen. Oder sich über die Aufbereitung und Umsetzung einer schönen Geschichte aus dem Leben der Moderatoren Gedanken zu machen, die – weil sie auch in der Lebenswelt der Hörer spielt – eine Verbindung zum Hörer herstellt.

Ob Videokonferenz oder Homeoffice, Voicetrack oder Vorproduktion – genauso wie Benchmarks erleichtert all das unser Leben, spart Personal und macht Radiomachen wirtschaftlicher. Diese Erleichterungen bergen auch eine Falle: den Sieg der Bequemlichkeit über die Professionalität. Ich meine, wir streben heute zu selten nach dem bestmöglichen Ergebnis – nicht, weil wir es nicht können, sondern weil wir zu bequem geworden sind. Und Bequemlichkeit killt Einschaltquote.

Also: raus aus der Hängematte – aber natürlich erst nach den großen Ferien J

Und dann stellen wir sie alle wieder in den Vordergrund unseres Tuns: die Verbindung zum Hörer.

Deine Yvonne

Yvonne Malak
Das Moderationshandbuch: Alles, was Radio-Profis wissen müssen
201 Seiten
ISBN 3848782723
39,00 € Nomos

Yvonne Malak ist Radioberaterin und berät eine Vielzahl von Radiostationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Yvonne Malak schreibt monatlich für die radioWOCHE. Die nächste Ausgabe erscheint am 01. November 2024.

Alle bisher veröffentlichten Publikationen von Yvonne Malak finden Sie auch unter www.my-radio.biz/category/publikationen/radiowoche/

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