Yvonne Malak: Die Corona-Kurve im Radio

Die Berliner Wasserwerke haben kürzlich eine Statistik über den Wasserverbrauch in der Hauptstadt veröffentlicht und diese hat ganz viel mit Ihrer Morgenshow zu tun!

Fand der Peak beim Wasserverbrauch in Berlin im Februar im Schnitt um 7 Uhr 31 statt, ist er seit den Ausgangsbeschränkungen ziemlich genau um 90 Minuten verschoben und startet um 9 Uhr…

Wenn das auch für das Radio stimmt, dann wäre mein Rat, die Morgenshow zu verlängern, wie es auch große Shows in den USA gerade tun! 65 iHeart Radio Stationen in den USA senden ihre Morningshows derzeit bis 11 Uhr! Das SAT 1 Frühstücksfernsehen hat ebenfalls um eine „Spezialstunde“ verlängert und sendet seine Infotainment Show aus Berlin derzeit bis 11 Uhr statt bis 10 Uhr.

Wäre ich PD, würde ich eines derzeit keinesfalls tun: die Morgenshow um 9 Uhr beenden… eine normalerweise um 9 Uhr endende Morgenshow sollte derzeit mindestens bis 10 Uhr senden (und ggf. später beginnen. Die 5 Uhr Stunde kann man sich derzeit in den meisten Bundesländern sparen…) – sofern der Wasserverbrauch und die Radionutzung tatsächlich etwas miteinander zu tun haben.

Um das zu verifizieren, habe ich jemanden gefragt, der täglich Streamingabrufe von mehr als 50 Radiosendern in Europa sieht und auswertet. Bill De Lisle, COO von RadioAnalyzer, dem weltweit führenden Unternehmen für Data Analytics im Radio.

Yvonne Malak: Viele meiner Kunden sehen an ihren eigenen Daten aus Analyse-Softwares wie Radioanalyzer oder der Beobachtung ihrer Streamabrufe einige Dinge, die du jetzt hoffentlich etwas objektivieren kannst.  

Zuerst meinen viele, eine Verschiebung der Hörgewohnheiten zu sehen – der Morgenpeak startet später und dauert länger. Oder anders gefragt: Haben sich die Hörgewohnheiten genauso verschoben wie der Wasserverbrauch in Berlin? Kannst du das anhand der Daten aus dem Radioanalyzer generell bestätigen?

Bill De Lisle: Ja das können wir grundsätzlich bestätigen. Das weicht aber ein bisschen ab – je nach Format und auch von Sender zu Sender. Grundsätzlich gilt natürlich: Radio hören spiegelt die Alltagssituationen, die Lebensweise. Und beim RadioAnalyzer sehen wir auch genau das, was tatsächlich passiert und nicht das, woran sich die Hörer erinnern.

Und wir haben wirklich von einem Tag auf den nächsten gesehen, dass dieser Aufstehzeitpunkt sich verschoben hat. Man muss jetzt eben nicht mehr die Kinder um sieben Uhr zur Schule schicken und um halb acht im Auto sitzen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Interessanterweise ähnelt die Kurve aktuell eher den Urlaubskurven, die wir in Ferienzeiten regelmäßig bei Kunden sehen, wo sich der Zeitpunkt des Aufstehens um etwa eine bis eineinhalb Stunden nach hinten verschiebt.

Der Morning-Show-Peak hat sich nach hinten verschoben, ebenso der Tagespeak – aber ab dem frühen Nachmittag gleichen sich die Kurven dann in etwa wieder an. Insgesamt sind wir aber auf einem viel höheren Niveau als  wir zu dieser Jahreszeit normalerweise bei den Sendern erwarten würden.

Yvonne Malak: Auch inhaltlich haben sich die Bedürfnisse der Hörer sicher verändert – mit der Pandemie und im Verlauf der Pandemie?

Bill De Lisle: Wir haben gesehen, dass sich die Akzeptanz der Inhalte und wie diese Inhalte genutzt werden, verändert hat. Am Anfang wollten die Menschen so viele Informationen wie möglich. Später war es dann zum Beispiel so, wenn Informationen redundant wurden, wie die ständigen Informationen über Hände waschen und andere Verhaltensregeln, waren das starke Abschaltfaktoren. Wir haben ganz klar gesehen: irgendwann als alle diese Informationen bekannt und ausreichend kommuniziert waren,  war die ständige Erinnerung daran – z.T. mit erhobenem Zeigefinger – ein deutlicher Abschaltfaktor.

Ganz anders war es mit den Informationen, die sich darum gedreht haben, das Leben der Menschen widerzuspiegeln und zwar emotional widerzuspiegeln. Wie gehen andere mit der Situation um? Wie kann ich meine Kinder beschäftigen? Was erleben andere Menschen in anderen Ländern derzeit in dieser Krise? Die Menschen wollten hören, wie es anderen Menschen geht –  sie konnten ja nicht mit anderen Leuten draußen reden und hatten halt nur das Radio oder Fernsehen und Fernsehen ist ja jetzt nicht so das Medium für Dialoge…

 Ich denke, die Hörer genießen diese Art von sozialen Kontakten und damit den Bezug zu anderen Menschen, der ihnen durch die Ausgangsbeschränkungen im richtigen Leben verwehrt ist. 

Yvonne Malak: Einige Radiomacher glauben, nun sei die Zeit für längere Wortformate und Hörer würden diese nun besser akzeptieren, stimmt das?

Bill De Lisle: Nein – oder anders gesagt: es kommt darauf an, was die Sender vorher gemacht haben. Wenn ein Sender sich ein Image für gutes Wort erarbeitet hat – wie zum Beispiel Radio Eins in Berlin –  und wenn dieses Wort dann nicht redundant ist und spannend aufbereitet, dann akzeptieren die Hörer natürlich auch längere Wortstrecken. Wenn ein Sender bislang aber auf kurze Breaks gepolt war oder auf Gewinnspiele, dann akzeptieren die Hörer auch in Corona Zeiten keine langen Wortbreaks. Wir erziehen die Erwartungshaltung unserer Hörer jeden Tag ein kleines Stückchen mit.

Yvonne Malak: Außerdem beschreiben viele Radiomacher einen deutlichen Anstieg der Onlinenutzung. Spezialformate sogar bis 50% mehr Streamabrufe. Heißt das, es hören mehr Menschen oder hören die einzelnen Nutzer einfach nur länger?

Bill De Lisle: Manche haben  am Anfang behauptet, der Anstieg in den Streams sei nur auf einen Gerätewechsel zurückzuführen und die Leute würden mehr digital zuhause hören –  aber das kann nicht stimmen. Wir haben die Veränderung bei der Radionutzung bereits in den ersten Tagen der Corona-Pandemie gesehen, auch als es noch keine Ausgangsbeschränkungen in Deutschland gab und keine Schulschließungen. Das kann also nicht alleine daran liegen, dass die Leute plötzlich zuhause mehr über Streams gehört haben –  das heißt also, es hören tatsächlich mehr Menschen als vorher. Weil auch Menschen dazugekommen sind, die vorher wahrscheinlich nicht oder nicht so häufig Radio gehört haben. Eher ist die Hördauer insgesamt etwas gesunken.

 Interessant war, dass Menschen manchmal auch aus einem bestimmten Grund das Radio eingeschaltet haben – wie zum Beispiel für die Übertragung der Ansprache von Ministerpräsident Markus Söder bei Antenne Bayern. Es war schön zu sehen, dass bei so einer wichtigen Ansprache nicht ausschließlich Fernsehen dafür genutzt wird, sondern durchaus auch das Medium Radio.

Yvonne Malak: Diese Krise ist also tatsächlich eine große Chance für das Radio. Zum Beispiel indem Sender jetzt die Zeit nutzen, um wichtige Images aufzubauen, von deren Verankerung in den Köpfen der Hörer  sie dann später profitieren?

Bill De Lisle: Absolut: ich habe dazu einen Satz in unserem Blog geschrieben und der beschreibt das relativ gut. Radio ist dadurch geprägt wie mein Alltag funktioniert und es ist unglaublich schwer, Hörer dazu zu bewegen, ihre Gewohnheiten zu verändern.

Wir haben aber jetzt eine Situation wo der Großteil unserer Hörerschaft  gezwungen wird, den Tagesablauf zu verändern und das über längere Zeit und das ist ein absolutes Geschenk, wenn es darum geht, sich in diesen neuen Tagesablauf einfügen zu können. Die Hörer haben jetzt diesen neuen Rhythmus und wollen ihn mit irgendwas füllen. Wir haben jetzt also sehr gute Möglichkeiten, auf die neuen Tagesabläufe unserer Hörer einzugehen, uns das zu eigen zu machen und später davon zu profitieren

Yvonne Malak: Was ist das wichtigste DON’T,  das ihr aus den Daten ablesen könnt?

Bill De Lisle: Verkauft eure Hörer nicht für blöd. Dazu gehören Redundanzen, nicht ernst gemeinte Heucheleien oder Floskeln. Das sind alles intelligente Menschen da draußen.

Yvonne Malak: Und Das wichtigste DO?

Bill De Lisle: Ich weiß, dass diese Floskel schon zu Tode geritten wurde. Aber es bleibt dabei: sei der Freund deiner Hörer. Wir müssen die Freunde unserer Hörer sein, auf die Situation unserer Hörer eingehen und uns mit deren Problemen beschäftigen. Wir müssen ein Tagesbegleiter sein und die Hörer wirklich mitnehmen. Das absolut größte DO, das es überhaupt im Radio gibt, gilt jetzt mehr als zuvor, denn mit den richtigen Freunden können die Menschen derzeit ja kaum reden.

Mehr dazu im Radioanalyzer Blog: https://radioanalyzer.com/ten-key-takeaways-for-radio-in-the-pandemic/

Meine Impulse aus diesem Gespräch:

  • bleiben wir verlässlich und gleichzeitig überraschend. Überraschend könnte zum Beispiel bedeuten, die Morgenshow bis mindestens 10 Uhr zu verlängern.
  • Verlässlich heißt, auf keinen Fall die Benchmarks zu verschieben (aber vielleicht sind wir späteren Zeitpunkt noch einmal zu wiederholen!).
  • Vergessen wir darüber hinaus nicht, was die wichtigen Images sind, die wir nach den Ausgangsbeschränkungen brauchen werden, um die Hörerzahlen oben zu halten. Arbeiten wir daran und auch wenn Moderatoren es manchmal nicht mehr hören können: bei einem Großteil der Sender sind es die Images für die richtige Musik und die beste Musikmischung.
  • Außerdem bleiben wir sensibel, was die Art und Menge an Informationen betrifft. Wenn etwas wirklich Neues passiert, gibt es sicher einen erhöhten Informationsbedarf. Wenn die Informationen einmal durchgetragen sind, wollen Menschen vor allen Dingen Alltagsbegleitung und auch Ablenkung.

Eines wollen sie von ihrem Lieblings-Radiosender in jedem Fall immer:  die Bindung zu anderen Menschen und dafür haben wir im Moment eine einmalige Chance.

Ihre
Yvonne Malak

Yvonne Malak
Die Morgenshow
256 Seiten, 17 Abb., Broschur
ISBN 978-3-86962-431-0
24,00 € Herbert von Halem Verlagsgesellschaft
https://www.halem-verlag.de/die-morgenshow/

www.my-radio.bizYvonne Malak ist Radioberaterin und berät eine Vielzahl von Radiostationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Yvonne Malak schreibt monatlich für die radioWOCHE. Die nächste Ausgabe erscheint am 01. Juni 2020.

Alle bisher veröffentlichten Publikationen von Yvonne Malak finden Sie auch unter www.my-radio.biz/category/publikationen/radiowoche/

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